Beschlussvorlage der Verwaltung - 06/1790

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Beratungsfolge

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Beschlussvorschlag

Die Bürgerschaft der Universitäts- und Hansestadt Greifswald beschließt:

 

Die Bürgerschaft der Universitäts- und Hansestadt Greifswald bekennt sich zu dem Ziel, auf kommunaler Ebene einen Beitrag zur medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten zu leisten, deren Erkrankungen mit Hilfe von medizinischem Cannabis behandelt werden. Hierfür strebt die Stadt an, sich als Standort für den kontrollierten Anbau von medizinischem Cannabis auf Grundlage des Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017 zu etablieren.

 

1. Der Oberbürgermeister wird beauftragt, die Umsetzung dieses Ziel durch folgende Maßnahmen zu forcieren:

  • Im Zuge der Wirtschaftsförderung durch geeignete Öffentlichkeitsarbeit offensiv potentielle Investoren für den Anbau von medizinischem Cannabis auf städtischen Flächen zu suchen.

 

  • Die potentielle Ansiedlung unter Einbeziehung der Stadtwerke Greifswald als Stromversorger zu bewerben und zu prüfen, inwieweit die Stromversorgung durch die Stadtwerke als Standortvorteil genutzt werden kann.

 

2. Im Zuge einer rechtlichen Prüfung zu eruieren, inwieweit die Kommune eine eigenständige Rolle zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit wahrnehmen kann.

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Sachdarstellung

Der deutsche Bundestag hat auf Antrag der Bundesregierung am 19. Januar 2017 einstimmig (CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften beschlossen.[1] Mit der Gesetzesänderung wurde die rechtliche Möglichkeit geschaffen, Cannabis als Arzneimittel bei schwerwiegenden Erkrankungen zu verschreiben.[2] Zuvor konnten Patientinnen und Patienten lediglich mit einer Ausnahmegenehmigung des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für Erkrankungen wie unter anderem Multiple Sklerose, ADHS, depressive Störungen, Chronische Schmerzen und Tourette-Syndrom Cannabisarzneimittel beziehen. Der Weg über die Ausnahmegenehmigung war für viele Betroffene mit hohen Hürden verbunden und führte zu einem erschwerten Zugang zum medizinischen Cannabis, welches in vielen Leidensgeschichten oftmals die einzig verbleibende Behandlungsmethode darstellt. Der Beschluss des Bundestages war damit ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Situation von vielen Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen.

 

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes haben sich jedoch zahlreiche Problemfelder herauskristallisiert, die die Umsetzung des bestehenden Rechts erschweren. Hierbei ist insbesondere die unzureichende medizinische Versorgung im Zuge von mangelhaften Versorgungsstrukturen für die entsprechenden Arzneimittel ein Problem. Bisher wird medizinisches Cannabis nicht in Deutschland angebaut. Die Arzneimittel müssen nach Genehmigung vom BfArM durch die jeweiligen Anbieter aus den Niederlanden und Kanada importiert werden. Gerade bei diesen Import-Produkten gab es in den letzten Monaten erhebliche Schwierigkeiten.[3] Einer der größten deutschen Importeure, das Kölner Unternehmen Cannamedical (Prognostizierter Jahresumsatz 2018 im Vertrieb mit Cannabis 20 Millionen Euro) reichte im Oktober 2018 Klage gegen einen kanadischen Lieferanten ein, weil dieser nach einer Geschäftsübernahme nicht mehr die vereinbarten Liefermengen bereitstellen konnte.[4] Ferner beklagen Apotheken und Patientinnen und Patienten neben der Verlässlichkeit der Versorgung auch immer wieder die Qualität der importierten Arzneimittel.

 

Die Bundesregierung hat auf die anhaltenden Lieferengpässe und die fehlende Konstanz in der Qualität der Medizinprodukte reagiert und forciert den eigenen, kontrollierten Anbau von medizinischem Cannabis in Deutschland. Gerade im Hinblick auf die Legalisierung des Cannabis-Konsums in Kanada wird damit gerechnet, dass das Land zukünftig weniger Exporte zur Verfügung stellen wird.

Die Anbaubestrebungen des Bundes werden durch das BfArM koordiniert, an dem auch die sogenannte Cannabis-Agentur angegliedert ist.[5] Die Cannabis-Agentur und das BfArM haben im vergangenen Jahr eine erste Ausschreibung für die Leistungen zum Anbau vom medizinischen Cannabis in Deutschland auf den Weg gebracht, allerdings wurde aufgrund zu eng gesetzter Fristen im Ausschreibungsprozess im Zuge einer Klage eines potentiellen Bewerbers die erste Ausschreibung per Beschluss des OVG Düsseldorfs für unzulässig erklärt.[6] Die Phase der Angebotsabgabe für die mittlerweile zweite Ausschreibung wurde im Januar 2019 beendet, insgesamt 79 Bieter (bzw. Bietergemeinschaften) haben sich mit verschiedenen Angeboten auf die insgesamt 13 Lose beworben.[7] Die Zuschlagserteilung für die 13. Lose soll im 2. Quartal 2019 erfolgen. Ferner wurde im Rahmen der Ausschreibung explizit seitens des BfArM ausgeführt, dass im Zuge der Zuschlagserteilung Nachweise erfolgen müssen, dass geeignete Grundstücke für den Anbau zur Verfügung stehen. Für Greifswald bietet das die Möglichkeit, sich auch noch in dieser Ausschreibungsphase offensiv als möglicher Standort für die abgegebenen Gebote zu präsentieren.

Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass der realisierte Anbau im Zuge dieser Ausschreibungsperiode bei Weitem nicht den Bedarf in Deutschland decken wird. Bereits im vergangenen Jahr lag das Verhältnis von bewilligten Import-Genehmigungen (maximale Einfuhrmenge) für die fünf größten Importeure bei 25,6 Tonnen pro Jahr – der Anbau in den Deutschland über die Cannabis-Agentur beträgt hingegen lediglich 2,6 Tonnen pro Jahr für die nächsten vier Jahre.[8] Dies und die durchaus fragwürdige Import-Perspektive für medizinisches Cannabis aus Kanada deuten darauf hin, dass sich in den nächsten Jahren die notwendige Anbaumenge in Deutschland deutlich steigern wird, was in potentiellen neuen Ausschreibungen münden könnte. Auch hier hat die Stadt Greifswald abermals die Möglichkeit, zu partizipieren.

 

Warum sollte sich Greifswald als Standort für den kontrollierten Anbau von medizinischem Cannabis gegenüber potentiellen Investoren bemühen?

 

Neben der bereits angesprochenen Gewährleistung der Versorgungssicherheit für schwerkranke Patientinnen und Patienten sprechen vor allem wirtschaftliche Aspekte für ein Engagement der Stadt.

 

Die jetzt vorgenommene Losvergabe umfasst pro Los eine Mindestanbaumenge von 200 kg pro Jahr. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass die Preise durch den Anbau in Deutschland deutlich geringer werden, ist selbst die Einwerbung eines Loses mit erheblichen Umsätzen verbunden. Aktuell werden in Apotheken in Deutschland für ein Gramm medizinisches Cannabis ein Preis von rund 25 EUR aufgerufen – selbst bei einer sehr optimistischen Annahme, dass sich durch den heimischen Anbau die Preise halbieren lassen, hätte ein einzelnes Los ein Umsatzvolumen von rund 2,5 Millionen Euro jährlich. Aufgrund der aufwendigen Prüfung der medizinischen Produkte in  den Apotheken ist jedoch eher mit höheren Preis zu rechnen.[9] Der Anbau vom medizinischen Cannabis wird deshalb in Zukunft eine stark wachsender Wirtschaftszweig sein, der gutbezahlte und gesicherte Beschäftigungsverhältnisse bieten wird. Im Vergleich von 2017 zu 2018 sind die bewilligten Anträge bei den drei großen Krankenkassen AOK, Techniker Krankenkasse und Barmer um mehr als 42 Prozent gestiegen (2017: 8.800 2018: 12.500). Die drei Kassen repräsentieren rund die Hälfte der gesetzlich-versicherten Patientinnen und Patienten, so dass die absoluten Zahlen für Deutschland noch deutlicher höher liegen werden.[10] Gleichzeitig kann mit Hilfe des heimischen, kontrollierten Anbaus ein erheblicher Beitrag zur Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen geleistet werden, da die Arzneiprodukte aus Deutschland gegenüber dem Import-Produkten Kostenvorteile bieten werden, die entsprechend den Preis für das Medizinprodukt senken werden. Da die Medizinprodukte dank der Gesetzeslage seit 2017 durch die Krankenkassen erstattet werden, ist die Ermöglichung des kontrollierten Anbaus und die damit verbundenen Kostensenkungen auch ein Beitrag zur soliden Finanzierung des Gesundheitssystems in Deutschland.

 

Warum ist Greifswald als potentieller Standort für den kontrollierten Anbau vom medizinischen Cannabis geeignet?

 

Diese Frage stellt sich bei jeder potentiellen Ansiedlung von Unternehmen. Auch wenn Greifswald bisher keine Expertise für das konkrete Feld vorweisen kann, so gibt es innerhalb der Stadt und in der Region (sowie im Bundesland) vorhandene Expertise in der Gesundheitsbranche und in der Pharma-Industrie. Gleichzeitig ist mit der Universität und der Universitätsmedizin eine potentielle wissenschaftliche Begleitung und Kooperation in direkter Nähe. Im Rahmen der Gesetzgebung 2017 betonte die Bundesregierung den Willen, durch Begleiterhebungen, die Datengrundlage für begleitende Forschung zu schaffen. Sofern es die Stadt schafft, potentielle Investoren zu gewinnen, könnte dies auch ein zusätzlicher Impuls für die entsprechende Forschung an der Universität und der Universitätsmedizin darstellen.

Greifswald ist eine wachsende Stadt in Vorpommern, die über ein breites Angebot akademischer Bildung verfügt und in vielen weiteren Standortfaktoren überzeugen kann. Potentielle Investoren werden damit auch im Hinblick auf Fachkräftegewinnung ein Interesse an der Universitäts- und Hansestadt haben. Die Möglichkeiten von Synergieeffekten mit den universitären Einrichtungen und der Universitätsmedizin sind weitere Vorteile für uns als Stadt.

 

All die genannten Vorteile werden zunehmend auch von anderen Akteuren auf kommunaler Ebene realisiert. Es ist daher nicht überraschend, dass mit der Stadt München bereits eine andere Stadt ein großes Interesse an der Ansiedlung von kontrollierten Anbauflächen für medizinisches Cannabis kund getan hat.[11] Im Sinne einer kooperativen Zusammenarbeit kann die Stadtverwaltung im Zuge des Prüfauftrags für die Möglichkeiten eigener kommunaler Flächen mit der Stadt München zusammenarbeiten, um den Aufwand zu reduzieren.

 

Es liegt im absoluten Interesse der Stadt, dass ein derartig dynamischer Wirtschaftszweig nicht nur wieder ausschließlich im Westen und Süden Deutschlands angesiedelt wird, sondern ebenso auch der Osten des Landes (sowohl im Bundesland als auch im Bund) davon profitiert. Greifswald bietet gute Voraussetzungen hierfür, es liegt an der Stadtpolitik den Willen zu zeigen, diese Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik im Sinne der Patientinnen und Patienten zu nutzen. Das ist am Ende nicht nur die Hilfe für schwer kranke Menschen und deren Möglichkeit, die Medizin zu erhalten, die sie benötigen sondern auch eine Entlastung für alle Krankenversicherten, weil der kontrollierte heimische Anbau die Finanzbudgets der Krankenkasse im Vergleich zu den unsicheren und teuren Import-Produkten schonen wird.

 

Weiterführende Angaben

 

[1]https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2017/maerz/cannabis-als-medizin-inkrafttreten.html

[2]https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw03-de-betaeubungsmittel/487044

[3]https://www.leafly.de/lieferengpaesse-bei-bluetensorten/ sowie exemplarische Meldungen der vergangenen zwei Jahre:

https://www.welt.de/gesundheit/article172354881/13-000-Antraege-Cannabis-auf-Rezept-Lieferengpaesse-in-Deutschland.html

https://www.aerzteblatt.de/archiv/193421/Medizinisches-Cannabis-Bundesregierung-sieht-Lieferengpaesse
https://kleineanfragen.de/bundestag/19/2753-versorgungslage-von-cannabis-zu-medizinischen-zwecken

[4]https://cannamedical.com/de/news/cannamedical-pharma-files-claim-for-damages-against-the-canadian-company-aurora-cannabis-tsx-acb/

[5]https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Cannabis/Cannabisagentur/_node.html

[6]https://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/pm7-2018.html

[7]https://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/pm1-2019.html

[8]https://kleineanfragen.de/bundestag/19/1230-importgenehmigungen-fuer-medizinisches-cannabis-und-ausschreibungsverfahren-der-cannabis-agentur

[9]https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2018/10/19/so-aufwendig-ist-die-cannabis-analytik

[10]https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/aok-tk-und-barmer-immer-mehr-deutsche-patienten-bekommen-cannabis-auf-rezept/23954602.html?ticket=ST-2230212-27Db2SRvVD7YiofP4ufU-ap5

[11]https://www.deutschlandfunk.de/cannabis-als-arzneimittel-stadt-muenchen-prueft-anbau.697.de.html?dram%3Aarticle_id=438882&fbclid=IwAR3JrZUMQ4OyJNVJHaPzqB

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Beschlüsse

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11.03.2019 - Ausschuss für Finanzen, Liegenschaften und Beteiligungen

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12.03.2019 - Ausschuss für Wirtschaft, Tourismus und Kultur

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25.03.2019 - Hauptausschuss (HA) - auf TO der BS gesetzt

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29.04.2019 - Bürgerschaft (BS)